Geschichte der Kammfabrikation im Guldental
Bis 1990 wurden im solothurnischen Mümliswil Kämme hergestellt. Die Anfänge der Kammmacherei gehen bis ins 18. Jahrhundert zurück, das Gewerbe blieb während mehr als 160 Jahren in den Händen der Familie Walter. Am Beispiel von Mümliswil lässt sich der Übergang vom einstigen Handwerk zur Industrie anschaulich nachvollziehen, zumal die Fabrikanlage am Eingang des Dorfes noch immer zu sehen ist. Ein Teil des Firmenarchivs gelangte in das seit 1991 bestehende Museum, zusammen mit Gegenständen und Produkten der ehemaligen Kammfabrik, die zu ihrer Blütezeit einen weltweiten Ruhm genoss.
Mümliswil im Guldental
Das solothurnische Kammmacherdorf liegt im Jura am Ausgang des Guldentals, wo Ramiswiler- und Limmernbach zusammenfliessen. Im Norden erhebt sich die Passwang- und die Hauensteinkette, im Süden die Brunnersberg-Farisbergkette, durchschnitten von einer Klus. Die Dörfer Mümliswil und Ramiswil, der Weiler Reckenkien und eine Reihe weitverstreuter Einzelhöfe bilden eine politische Gemeinde. Mit einer Fläche von über 35 km2 ist Mümliswil-Ramiswil die grösste Gemeinde des Kantons Solothurn und annähernd flächengleich mit dem Kanton Basel-Stadt. Obwohl Mümliswil nie ans Eisenbahnnetz angeschlossen wurde, entwickelte sich die Gemeinde vom Bauerndorf zur Industriesiedlung. Dabei spielte die Kammmacherei eine wichtige Rolle. Zwei Jahrhunderte lang war Mümliswil das Zentrum der Schweizer Kammproduktion.
Anfänge des Kammmacher-Gewerbes
Die lange Tradition der Kammherstellung in Mümliswil nimmt ihren Anfang in der Gestalt von Urs Joseph Walter. Als Sohn eines Landwirts, 1759 „von armen Eltern geboren“, lernte er schon früh Hunger und Entbehrung kennen. Mit Betteln ,“Strumpflismen“ und Kühe hüten trug er zum Lebensunterhalt seiner Familie bei. Seine mit Tinte und Gänsekiel niedergeschriebene „Läbens-Gschicht“ widerspiegelt auf eindrückliche Weise die damaligen Verhältnisse und Lebensumstände der Bauernfamilie, die in grosser Armut lebte: „Bis in das 6-te Jahr ohne Arbeit, im Sommer barfuss, alle Jahr 1 Paar Zwilchhosen, die erste Hälfte ganz, die andere Hälfte des Jahres geplätzet. Darnach an die Lismerarbeit, bis ins 9. Jahr, noch dazu vom 9. bis zum 16. Jahr durch den Sommer die Küh gehütet, und zwar alle Zeit barfuss. Nachdem kommt eine grosse Theuerung, so dass ich von Donnerstag Morgens bis Freitag 11 Uhr Vormittags nichts bekomme zu Essen und zwei Manns-Strümpf in der Zeit gemacht habe. (…) So der 3-te Strumpf mehr als halb gemacht, nehme ich ihn mit und gehe auf die Sennhöfe zu betteln, da gab es Essen genug. Laufe von 10 bis 9 Uhr Nachts, mache auf der Reise meinen Strumpf fertig und bekomme ihn ganz voll Käs, so dass er 22 Pfund gewogen. Der Vater und die Mutter lobten Gott, dass ich Käs gebracht. Da war ich 16 Jahre alt, da arbeitete bei Bauern, wer mich gebraucht, nur dass ich zu essen habe, so bis ich 20 Jahre alt war. Da will ich lernen lesen und schreiben, da war keine Hülfe, der Vater und die Mutter wollten nichts davon wissen, weil ich weniger gelismet.“
Familienbetrieb mit ausländischen Gesellen
Trotz den Einwänden seiner Eltern brachte sich Urs Joseph Walter selber das Lesen und Schreiben bei. Nach seiner schweren täglichen Arbeit sass er bis nachts um „2 oder 3 Uhr“ im Schein einer Öllampe am Tisch um zu lernen. Schon nach einem halben Jahr erledigte er Schreibarbeiten für einen Strumpffabrikanten aus Bern, der sich dafür einsetzte, den Buben ein Handwerk lernen zu lassen. „Ein Strählmacher“ wolle er werden, meinte der junge Walther, „weil die Läuse allzeit wohl geraten“. Läuse, glaubte er, werde es immer geben und somit auch immer Arbeit für einen Kammmacher. Nach der Lehre in Bützberg ging er auf die Stör, zog mit seinem Werktisch und der Kammsäge von Haus zu Haus, reparierte „alte Strähle“ und sägte neue. Durch die Heirat mit einer Mümliswilerin kehrte er wieder in sein Heimatdorf zurück und begann für seine Familie, die inzwischen auf elf Personen angewachsen war, ein Wohnhaus mit Werkstatt zu bauen. 1792 konnte er mit seiner Familie einziehen und seine Kammmacherwerkstatt in Betrieb nehmen. Das Rohmaterial, Kuh- und Ochsenhörner, bezog er bei Metzgern, Viehhändlern und Bauern der Umgebung. Die angefertigten Kämme wurden an Krämer und Hausierer geliefert und auf den Märkten im Gebiet zwischen Basel, Aarau, Biel und Bern feilgeboten.
Anfangs stellte Urs Joseph Walter gewöhnliche Frisierkämme, sogenannte „Richter“ her, die dazu verwendet wurden, das Haar in Ordnung zu bringen. Später ergänzte er sein Sortiment mit modischen Steckkämmen, die als Schmuck die aufgesteckten Damenfrisuren zierten. Zwei heranwachsende Söhne halfen mit, den Familienbetrieb gedeihen zu lassen. Urs Viktor Walter, der älteste, übernahm 1819 die väterliche Werkstatt, sein Bruder Rudolf Walter eröffnete einen eigenen Betrieb. Zur Zeit der Biedermeiermode (um 1815 bis 1848) waren Zierkämme sehr gefragt. Das Kammmachergewerbe florierte, Gesellen aus Deutschland und Frankreich zogen nach Mümliswil, die ursprüngliche Werkstatt wurde langsam zu klein. In den Jahren 1830-1840 beschäftigte Urs Viktor Walter 12 Arbeiter, in den nächsten zwei Jahrzehnten stieg die Zahl der Angestellten auf 35.
Vom Handwerk zur Industrie
Unter dem Nachfolger August Hadolin Walter, einem Sohn von Urs Viktor, entstand aus der einfachen Kammmacherwerkstatt ein eigentlicher Fabrikationsbetrieb. Etwas ausserhalb des Dorfes am Ufer des Limmernbachs baute er 1862/63 ein Fabrikgebäude, vermietete die oberen Stockwerke an Basler Seidenbandfabrikanten und richtete im Erdgeschoss seinen Kammmacherbetrieb ein. Bereits vier Jahre später erwarb er die Liegenschaft der früheren Papiermühle am Eingang des Dorfes und errichtete auf dem Areal die erste moderne Kammfabrik in der Schweiz. Im Herbst 1870 wurden die neuen Gebäude bezogen. Damit vollzog sich der Übergang vom reinen Handwerk zur mechanischen Herstellung der Kämme. Neben dem einheimischen Rohmaterial wurden nun auch Büffelhörner aus Brasilien und Siam, sowie das begehrte Schildpatt, die Platten aus den Rückenpanzern von Schildkröten, verarbeitet. Man begann mit der Herstellung kleiner Bedarfsartikel aus Hornabfällen wie Pfeifenmundstücke, Messergriffe, Brieföffner und Schnupftabakdosen. Die Arbeiterschaft war mittlerweile auf 120 Personen angewachsen. Nach dem Tod des Fabrikgründers 1878 übernahm der Sohn August den Betrieb seines Vaters. Eine schwere Geschäftskrise brachte die Kammfabrik in grosse finanzielle Schwierigkeiten, aus denen sich der junge Direktor nicht mehr zu retten wusste. Im Alter von nur 27 Jahren nahm sich August Walter das Leben. Vorübergehend leitete die Gemeinde Mümliswil die Geschicke der Fabrik, so dass die Arbeitsplätze erhalten werden konnten.
Aufschwung unter Otto Walter-Obrecht
Mit der Geschäftsübernahme (1887) durch Otto WalterObrecht, einem Urenkel des ersten Mümliswiler Kammmachers, begann eine neue Ära in der Geschichte der Kammfabrik. Nebst den handwerklichen Fertigkeiten, die er sich im väterlichen Betrieb in Selzach angeeignet hatte, erwies er sich als hervorragender Geschäftsmann, der dem Unternehmen zu einem bedeutenden Aufschwung verhalf. 1890 zählte der Betrieb 177, um die Jahrhundertwende bereits 240 Arbeiter und Arbeiterinnen. Die Fabrik wurde modernisiert und spezialisierte sich in vermehrtem Masse auf Neuheiten in der Haarschmuckmode. Die Firma erlangte weltweite Bekanntheit. Sie lieferte ihre Produkte zum grössten Teil ins Ausland. Vertretungen in London, Rom, Stockholm, Madrid, Lissabon, New York, Mexiko und Buenos Aires besorgten den Verkauf der qualitativ hochstehenden Mümliswiler Kämme. Zum illustren Kundenkreis gehörten nebst verschiedenen europäischen Adelshäusern der spanische Hof und die Queen Victoria aus England. Nach ihrem Tod im Jahr 1901 war die Nachfrage nach Schmuckkämmen, wie sie die Queen getragen hatte, so gross, dass erhebliche Mengen der Produktion schwarz eingefärbt wurden, um sie in England als Trauerkämme zu verkaufen.
Der erste Kunststoff
Nachdem in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts die gesamte europäische Industrie zur Verarbeitung eines neuen Materials überging, musste sich unter dem Druck der Konkurrenz auch die Mümliswiler Kammfabrik mit neuen Fabrikationsweisen auseinandersetzen. Die Rede ist vom ersten Kunststoff, dem Zelluloid, bestehend aus einer festen Lösung von Nitrozellulose und Kampfer. Als weitere Kunststoffe wurden Cellon (Zellulose-Acetat) und Galalith, dessen Hauptsubstanz Kasein bildete, zu Kämmen und Haarschmuck verarbeitet. Das neue Material war billig und liess ein grosses Farbenspektrum zu. Nebst der Kunststoffverarbeitung, die in Mümliswil ab 1896 einsetzte, bezog die Kammfabrik weiterhin natürliche Rohmaterialien von deutschen und französischen Grosshändlern. Allerdings musste Schildpatt, dessen Preis bis zu fünf Franken pro Gramm betrug, aus Kostengründen aufgegeben werden. Zudem verringerten sich die Bestände der in den tropischen und subtropischen Meeren vorkommenden KarettSchildkröte, deren Rückenpanzer als Rohmaterial besonders beliebt war. Mit der Kunststoffverarbeitung liessen sich jedoch verblüffend ähnliche Effekte wie die der Schildpattmusterungen erzielen.
Die Explosionskatastrophe von 1915
Nebst den vielen Vorteilen, die das neue Material Zelluloid mit sich brachte, barg es auch eine grosse Gefahr in sich: Es war leicht entflammbar. Diese Eigenschaft wurde der Mümliswiler Kammfabrik zum Verhängnis. Am 30. September 1915 kam es zu einer Katastrophe, die die Dorfgeschichte wie kein anderes Ereignis prägte. Gegen halb vier Uhr nachmittags explodierte das Hauptgebäude auf dem Fabrikareal. Ein Funke war durch die Absaugvorrichtung in den Keller gelangt, wo der Zelluloidstaub gesammelt wurde. Dort entzündete sich das leicht brennbare Material, was zu einer Explosion mit nachfolgendem Brand führte. Es spielten sich dramatische Szenen ab. Die ins Freie führenden Türen liessen sich nur nach innen öffnen und verklemmten sich, die Fluchtwege waren abgeschnitten. Zur Zeit der Explosion befanden sich im Hauptgebäude der Kammfabrik etwa 200 Arbeiter und Arbeiterinnen, verteilt auf mehrere Stockwerke. Für 32 von ihnen kam jegliche Hilfe zu spät. Sie verbrannten oder wurden unter den Trümmern begraben. Das jüngste Opfer war ein Junge von fünfzehn Jahren. Familien mit bis zu elf Kindern hatten ihre Mütter oder Väter verloren. Der Winter stand vor der Tür, an der Grenze wütete der Krieg und es fehlte an Arbeit. Das Herz der Fabrik war zerstört, die Produktion musste eingestellt werden. Zu der Trauer um die Angehörigen kam die grosse wirtschaftliche Not, die viele Mümliswiler Familien heimsuchte.
Durch Abfindungssummen versuchte der Fabrikdirektor Otto Walter-Obrecht die fehlenden Sozialversicherungen zu ersetzen. In einem Appell an das Personal rief er die Arbeiterinnen und Arbeiter auf, der Firma auch in dieser schwierigen Zeit die Treue zu halten. Der Wiederaufbau des zerstörten Hauptgebäudes und die Erweiterung der Fabrikanlage wurden unverzüglich an die Hand genommen. Aus der Asche entstand eine neue Produktionsstätte; auf einem Grundstück neben der bestehenden Fabrik wurden weitere Fabrikgebäude errichtet. 1916 konnte der Betrieb wieder aufgenommen werden und bereits drei Jahre später verzeichnete die Kammfabrik mit 400 Arbeitnehmern den höchsten Mitarbeiterstand.
Die Bubikopf-Haarmode bewirkt Absatzeinbruch
Absatzschwierigkeiten nach Kriegsende liessen die Zahl der Beschäftigten vorübergehend drastisch sinken. Auch die Filialen in New York und Buenos Aires mussten aufgegeben werden. Eine neue Krise bahnte sich an, deren Auswirkungen auf die Schmuckkamm-Herstellung verheerend waren. Die Frauen begannen, sich die langen Haare abzuschneiden; die Frisurenmode veränderte sich, der Bubikopf setzte einen neuen Trend. Schauspielerinnen, Starfriseure und Persönlichkeiten wie Coco Chanel machten diesen Kurzhaarstil populär. Dass der „Bubikopf“ auch in der Familie Walter thematisiert wurde, bezeugt ein Ausschnitt aus dem Buch „Der Wolkenbaum“ von Silja Walter. Silja Walter, eine Enkelin von Otto Walter-Obrecht und Schwester des verstorbenen Schriftstellers Otto F. Walter, beschreibt in ihrer autobiografischen Erzählung, wie sie sich mit ihrer Schwester Roswith darüber unterhält, ob die Mutter ihre Haare abschneiden soll: „Papa will nicht, dass sie die Haare abschneidet wie die Dame aus Deutschland.“ (…) „Warum darf sie die Haare nicht abschneiden?“ frage ich. – „Wegen Großpapa“, sagt Roswith. „Warum wegen Grosspapa?“ – „Wegen Grosspapas Kammfabrik.“ – „Warum wegen der Kammfabrik?“ – „Weil sie schlecht läuft.“
Trennung der Firma in Kammfabrik KROKO und OWO-Presswerk
Verstärkt durch die Krise der Dreissiger Jahre war die Existenz der Mümliswiler Kammfabrik ernsthaft gefährdet. Unter dem wirtschaftlichen Druck begann die Firma ein weiteres Standbein zu entwickeln. Die Herstellung von Kunststoffgeschirr und verschiedener Pressstücke aus Bakelit für die Elektrobranche wurde aufgenommen. 1932 teilte sich das Gesamtunternehmen in die zwei Betriebe „OWO“, und „Kroko“. Das OWO-Presswerk, abgeleitet vom Namen des Firmengründers Otto Walter-Obrecht, konnte bis ins Jahr 1998 weitergeführt werden. Die „Kroko“ – der Name geht auf die seit der Jahrhundertwende gebrauchte Markenbezeichnung zurück – beschäftigte sich ausschliesslich mit der Fabrikation von Frisierkämmen und Haarschmuckartikeln. Die Zeit der grossen Steckkämme war vorbei, das Haar zierten höchstens noch Spangen, Reifen und kleinere Seitenkämme. Otto Walter-Obrecht hatte sich nach der Explosionskatastrophe immer mehr vom Betrieb zurückgezogen und überliess die Geschäftsführung seinen Söhnen Adolf und Max.
Ab 1951 waren die beiden Firmen nicht mehr im Besitz der Familie Walter, welche die Geschicke der Kammproduktion während mehr als 160 Jahren in ihren Händen gehalten hatte. Mehr und mehr wurde die „Kroko“ durch billige Massenware konkurrenziert. Die Plastikkämme, aus körnigem Kunststoffmaterial für etwa ein Zehntel des Preises in nur einem Arbeitsgang hergestellt, schienen die qualitativ hochstehenden, handbearbeiteten Kämme zu verdrängen. Trotz wirtschaftlichen Berg- und Talfahrten konnte sich die Firma noch bis 1990 halten, ging dann aber endgültig in Konkurs. In der Schweiz existiert mittlerweile nur noch eine Kammfabrik; sie produziert unter dem Namen „Boltina“ in Riva San Vitale im Tessin.